29 Dezember, 2023

EuGH-Urteil in der „polnischen Rechtssache“: Widerruf von A1 von Amts wegen durch den ausstellenden Träger ohne Konsultationsverfahren möglich

In einem seiner jüngsten Urteile, in der "polnischen" Rechtssache C-422/22 ZUS Oddział Toruń, entschied der Gerichtshof der Europäischen Union, dass die ZUS, wenn sie eine Bescheinigung von Amts wegen und ohne Antrag des Aufnahmestaats annullieren will, die betroffenen Sozialversicherungsträger anderer EU-Mitgliedstaaten nicht konsultieren muss. Der Oberste Gerichtshof Polens befasste sich mit einer Vorabfrage zu diesem Thema.

Der Sachverhalt und die Schlussanträge des Generalanwalts

Der Sachverhalt stellt sich wie folgt dar: Die Zweigstelle der Sozialversicherungsanstalt (ZUS) in Toruń stellte bei einer Überprüfung ohne Ersuchen des zuständigen französischen Trägers Urssaf fest, dass ein polnischer Unternehmer, der in Frankreich und Polen als "zweiter Bauleiter" tätig sein sollte, nur im erstgenannten Land tätig war. Daraufhin zog die ZUS die gemäß Artikel 13 Absatz 2 der Verordnung 883/2004 erteilte A1 von Amts wegen zurück.

Der Oberste Gerichtshof, dem der Fall schließlich vorgelegt wurde, stellte dem Gericht zwei Fragen. Die erste Frage lautete, ob ein Träger, der einen A1-Bescheid irrtümlich ausgestellt hat, diesen ohne ein Konsultationsverfahren (Dialog und Schlichtung) mit dem zuständigen Träger eines anderen Mitgliedstaates selbst zurücknehmen kann. Die zweite Frage lautete, ob dieses Verfahren vor einer solchen Rücknahme durchgeführt werden muss.

In seinen komplexen Schlussanträgen schlug der französische Generalanwalt J. R. de la Tour vor, dass ein Träger, der bei einer von ihm selbst durchgeführten Prüfung feststellt, dass er einen A1-Bescheid zu Unrecht ausgestellt hat, diesen zurücknehmen kann, ohne zuvor ein Konsultationsverfahren (Dialog und Schlichtung) einzuleiten.

Urteil des Gerichtshofs

In seinem Urteil schloss sich der EuGH im Wesentlichen der Auffassung des Bürgerbeauftragten an. Er wies darauf hin, dass der zuständige Sozialversicherungsträger kein besonderes Anhörungsverfahren einleiten und durchführen muss, wenn er einen bereits erteilten A1-Bescheid von sich aus zurückziehen will.

Das Urteil ist grundsätzlich als richtig anzusehen, denn es gibt keine EU-Vorschriften, die einen Träger verpflichten, ein Konsultationsverfahren durchzuführen, wenn er ein A1 von sich aus widerruft (dieser Fall war sogar der erste in der Geschichte der Verfahren vor dem EuGH). Die Anwendung des Konsultationsverfahrens ergibt sich nämlich aus dem Bestehen einer Meinungsverschiedenheit zwischen den zuständigen Trägern zweier oder mehrerer Mitgliedstaaten. Die Rücknahme eines A1 von Amts wegen durch den Träger, der es ausgestellt hat, beruht dagegen nicht auf einer solchen Meinungsverschiedenheit, sondern auf der Feststellung dieses Trägers, dass die in einem bereits ausgestellten A1 enthaltenen Informationen nicht der Realität entsprechen.

Wichtig ist, dass der EuGH gleichzeitig daran erinnert hat, dass es sich bei der A1-Bescheinigung nicht um einen konstitutiven, sondern um einen deklaratorischen Akt handelt, und darauf hingewiesen hat, dass nach dem Entzug der A1-Bescheinigung die für den betreffenden Arbeitnehmer geltenden Rechtsvorschriften neu zu bestimmen sind und dann gegebenenfalls ein Anhörungsverfahren eingeleitet werden muss.

Gleichzeitig ist darauf hinzuweisen, dass in diesem Zusammenhang Risiken bestehen, die mit dem Nichtausschluss des betroffenen Arbeitnehmers aus der Sozialversicherung und dem so genannten "drop out" des entsandten Arbeitnehmers aus der Sozialversicherung zusammenhängen - die polnische Regierung hat im Verfahren vor dem Gerichtshof auf diese Risiken hingewiesen.

Mögliche Auswirkungen des EuGH-Urteils

Die kurzfristigen Auswirkungen des Urteils betreffen hauptsächlich Fälle, die bereits vor den polnischen Gerichten anhängig sind. Im Wesentlichen laufen sie darauf hinaus, dass das polnische Gericht zweiter Instanz in einem bestimmten Fall das Urteil und die vorangegangene Entscheidung der Rentenbehörde nicht aufheben muss. Eine weitere Prüfung des Sachverhalts ist also möglich.

Die längerfristigen Auswirkungen dieses Urteils scheinen wichtiger zu sein. Sie könnten sich darauf beziehen, dass das EuGH-Urteil, wie es scheint, nicht genügend Resonanz gefunden hat. Es besteht nämlich die Gefahr, dass dieses Urteil des EuGH dazu genutzt wird, das Konsultationsverfahren durch die Maßnahmen der zuständigen Institutionen selbst - insbesondere derjenigen der Staaten, die entsandte Arbeitnehmer aufnehmen - schrittweise "aufzuweichen". Dabei muss es nicht dazu kommen, das Konsultationsverfahren gänzlich in Frage zu stellen, sondern eher dazu, es als lästigen (vor allem für manche Aufnahmestaaten) Ballast auf der Grundlage einer "Salamitaktik" aufzugeben. Denn der zuständige Träger des Aufnahmestaates kann die im Entsendestaat ausgestellte A1-Bescheinigung weder selbst zurücknehmen noch kann er sie missachten (außer in den in der Rechtsprechung des EuGH genau definierten Fällen). Das Konsultationsverfahren ist also im Prinzip eine zwingende Voraussetzung für den Entzug der A1-Bescheinigung.

Obwohl der EuGH die Nichtnotwendigkeit der Konsultation nur auf den Entzug der A1 von Amts wegen durch den ausstellenden Träger beschränkt, kann das EuGH-Urteil von den zuständigen Trägern der Empfangsländer (insbesondere in Ländern, die traditionell zurückhaltend sind, wenn es um die Entsendung von Arbeitnehmern geht) so behandelt werden.

r.pr. dr Marcin Kiełbasa

 

Über das Europäische Institut für Arbeitsmobilität

Das Europäische Institut für Arbeitsmobilität ist Europas größter Think Tank für die Entsendung von Arbeitnehmern. Wir bringen Unternehmer, Akademiker, Juristen und Beamte zusammen, um Polens einziges und Europas größtes Expertenforum für die Entsendung von Arbeitnehmern zu schaffen. Wir setzen uns dafür ein, das geltende Recht und seine korrekte Auslegung zu verbessern und Fälle von Diskriminierung polnischer Arbeitgeber und ihrer entsandten Arbeitnehmer zu unterbinden. Wir bieten unseren Mitgliedern Zugang zu aktuellen Informationen und Fachwissen. mehr >>>

 

VIELLEICHT GEFÄLLT ES DIR